Es gibt heute kein Leitbild in der Rechtsprechung

Kritiker einer Normierung der Nachtrennungssorge bzw. Anhängerinnen der Beibehaltung des status-quo fordern die Fortsetzung der angeblich unvoreingenommenen Einzelfallprüfung. Abgesehen davon, dass eine fehlende Richtschnur immer streitfördernd ist, gibt es die angenommene Neutralität des Gesetzgebers und der Jurisprudenz schlicht nicht.

Gleichwohl der BGH in seinem Urteil zur Doppelresidenz aus März 2017 festgestellt hat, dass der Gesetzgeber kein Betreuungsmodell explizit ausgeschlossen hat, liegt dem aktuellen Familienrecht doch unzweifelhaft das Residenzmodell zu Grunde. In einem Gutachten für den Deutschen Juristentag schreibt die Göttinger Rechtshistorikerin Prof. Dr. Eva Schumann über das bürgerliche Recht, dass dieses "ausgehend vom Residenzmodell als Leitprinzip durchgängig von der Unterscheidung zwischen Sorge- und Umgangsrecht geprägt [ist] und ... auch im Unterhaltsrecht zwischen dem betreuenden und dem barunterhaltspflichtigen Elternteil [differenziert]." Auch der wissenschaftliche Beirat des Bundesfamilienministeriums spricht in seinem 2021 Gutachten zur gemeinsamen Betreuung von einem rechtlichen Leitbild Residenzmodell (S. 12, 15, 17, 98).

Von Gesetz wegen kann es gar keine gemeinsame Elternschaft mit geteilter Verantwortung geben. Eine Gerichtsentscheidung kann heute in letzter Konsequenz lediglich einen hauptbetreuenden und nicht hauptbetreuenden Elternteil erzeugen und sei es lediglich im Melderecht (an dem wiederum viele Prärogative von der Schulwahl bis zur Ausweisausstellung hängen) und der Alltagssorge. Denn obgleich es theoretisch möglich ist, eine paritätische Doppelresidenz auch gerichtlich anzuordnen, gibt es dafür kein Instrumentarium. Für die Einzelresidenz hingegen schon. Der Unterhalt ist in den §§ 1606 und 1612 BGB, der Umgang des nachgeordneten Elternteils ist in den §§ 1664 ff. BGB und die Alleinentscheidungsbefugnis in Alltagsangelegenheiten des Hauptbetreuenden Elternteils in § 1684 BGB geregelt. Statistisch gilt derjenige Elternteil, bei dem die Kinder gemeldet sind, automatisch als „alleinerziehend“. Nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen Rechtspraxis zugunsten der Einzelresidenz fällt jedem Beobachter bei „klassischer Aufteilung“ sofort „jedes zweite Wochenende zzgl. halbe Ferienzeit“ ein, bei erweitertem Umgang „klassische Aufteilung zzgl. ein Nachmittag die Woche“ etc.

Das BGH Urteil zum Wechselmodell aus März 2017 hat gerade deshalb so hohe Wellen geschlagen, weil bis dahin für einen Großteil der Beobachter schlicht undenkbar war, dass ein Doppelresidenz auch gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden kann. Es wurde und wird praktisch nie gemacht. Die Einzelresidenz wurde und wird hingegen seit Jahrzehnten ständig gegen den Willen eines Elternteils angeordnet und das, obwohl bereits seit 1998 klar geregelt ist (§ 1697a BGB), dass jedes Betreuungsmodell nicht nur angewendet werden kann, sondern sogar muss, das dem Kindeswohl am Besten entspricht; nicht dem Willen eines Elternteils. Es gab bisher rechtstatsächlich lediglich die Einzelresidenz. 

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