Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur gemeinsamen Elternschaft sind uneindeutig  

Die Behauptung einer uneindeutigen Wissenschaft erfolgt auf zwei Argumentationsebenen:

a)      Die analytischen und empirischen Erkenntnisse zur gemeinsamen Elternschaft sind uneindeutig  

b)     Die Wissenschaft an sich liefert in Zusammenhang mit gemeinsamer Elternschaft nach Trennung per se und notwendigerweise lediglich uneindeutige Ergebnisse    

zu a)

Die Nachkriegszeit war in Bezug auf das Verständnis von Eltern-Kind Bindung durch die Veröffentlichungen des Psychoanalytikers John Bowlby zur Mutterentbehrung und Entwicklung von sicheren Bindungen zu lediglich einer primären Bezugsperson geprägt. Bis heute wirken die frühen Annahmen Bowlbys unter dem Stichwort Monotropie in vielen Beiträgen zu gemeinsamer Elternschaft nach, gleichwohl Bowlby, zeitlebens wenig dogmatisch, seine Theorien im Lichte neuer Erkenntnisse revidierte

Unter anderem zeigte die Väterforschung insb. des in Oxford lehrenden Entwicklungspsychologen Michael Lamb, dass bereits Säuglinge sichere und bedeutsame Bindungen zu mehr als einem Elternteil aufbauen. Heute sprechen Wissenschaftler von pluralen Bindungen, die gleichberechtigt oder hierarchisch nebeneinander bestehen.

Die frühkindliche Entwicklung an sich wird heutzutage viel differenzierter betrachtet als in der Nachkriegszeit, es geht um ein komplexeres Verständnis von Beziehungen bzw. eine Weiterentwicklung der Bindungstheorie. Kleinkinder und ihre Bezugspersonen entwickeln über ein enges Vertrauensverhältnis einen gemeinsamen Verständnis- und Kommunikationsschlüssel, der es Kleinkindern (aber auch den Bezugspersonen) erst ermöglicht, soziales Wissen zu erwerben und die Welt zu erfahren (sog. mentalizing).

Eine besonders wichtige kindliche Bezugs- und Schlüsselperson ist der Vater, der in der Regel sowohl Zuwendung spendet als auch das soziale Lernen fördert.

Studien zur Vaterentbehrung, die bereits im Nachkriegseuropa  parallel zur Mutterentbehrung – ein Bestandteil des entwicklungspsychologischen Diskurses waren, rückten mit zunehmenden Scheidungszahlen im Zuge der gesellschaftlichen Liberalisierung im zwanzigsten Jahrhundert in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit.   

Heute besteht weitgehend Konsens darüber, dass beide oder sogar mehr Elternteile auch nach einer Trennung der Eltern ein wichtige Rolle im Leben ihrer Kinder spielen.

Die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson stellt für Kinder ein erhebliches Risiko für eine gesunde Entwicklung dar und rangiert damit als Entwicklungsfaktor nicht wesentlich unterhalb der aktiven Ablehnung durch einen Elternteil. Die Sehnsucht nach einem zugewandten (aber fehlenden Elternteil) ist auch in der Populärliteratur mannigfach beschrieben.

Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein fehlender Elternteil einen gravierenden Mangel für Kinder und Jugendliche darstellen kann, haben Wissenschaftler empirisch untersucht, wie sich Kinder nach einer Trennung der Eltern entwickeln, wenn sie viel Kontakt zu beiden Elternteilen haben. Die Vergleichsgruppe waren Kinder, denen nach der Trennung der Eltern nur wenig oder gar keinen Kontakt zu einem Elternteil zuteil wurde. Die breitangelegten Studien stützen die Erkenntnisse der Bindungsforschung.

Kindern geht es in der Regel mit substantiellem und regelmäßigem Kontakt zu beiden Elternteilen (Doppelresidenz) nach einer Trennung besser als mit eingeschränktem Kontakt (zu einem Elternteil, Einzelresidenz). Diese Ergebnisse sind unabhängig vom Status/Einkommen der Eltern und Konflikthaftigkeit der Nachtrennungskonstellation.

Einzelne Studien haben für Teilgruppen (Jungen, Mädchen, bestimmte Alterskohorten, bestimmte Begleitumstände) eine Nachteilhaftigkeit der Doppelresidenz ggü. der Einzelresidenz festgestellt. Solche Ausnahmen sind natürlich unter einer Vielzahl von Studien nicht auszuschließen; besonders kritisch muss aber in diesem Zusammenhang die Aussagekraft von Teilgruppenanalysen gesehen werden. Während die Ergebnisse der Mittelwertvergleiche (Wohlergehen der Kinder im Mittel) für die Gesamtzahl der Probanden noch eindeutig sind, werden diese für kleinere Ausschnitte immer dürftiger. Insbesondere wenn – um bestimmte Ergebnisse zu befördern – für Faktoren (wie z. B. Strittigkeit, Einkommen) künstlich Extremwerte angenommen werden.


zu b)

Kritiker wissenschaftlicher Studien zum Wohlergehen von Kindern nach einer Trennung wenden häufig ein, dass die Sozial- und Lebenswissenschaften per se keine validen Ergebnisse liefern könnten, da sie aus ethischen Gründen keine Versuche unter Laborbedingungen durchführten. Alternative Methoden wie Langzeitbeobachtungen seien zu aufwändig. Es könne also nie ausgeschlossen werden, dass beobachtete Korrelationen durch Fremdfaktoren hervorgerufen worden seien; z. B. wenn das Wohlergehen in der Doppelresidenz nicht aus der geteilten Betreuung, sondern durch das im Schnitt höhere Einkommen der Eltern resultiere.

Um den Einfluss von alternativen Erklärungen auszuschließen, können diese jedoch in die Untersuchung miteinbezogen – kontrolliert – werden; was in der Regel geschieht. Aber – so die Kritiker – da keine Laborbedingungen vorherrschten, könnten nie alle Störfaktoren „kontrolliert“ werden. Es helfe – neben Experimenten - allein, Längsschnittdaten zu erheben, also die Entwicklung von Kindern bereits vor der Trennung zu beobachten, um damit auszuschließen, dass nur die Eltern und Kinder mit hervorragenden Merkmalen in der Doppelresidenz landen und dort die guten Ergebnisse verursachen. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von Selbstselektion. 

Die Annahme einer ergebnisverzerrenden Selbstselektion in ausschlaggebendem Umfang ist allerdings analytisch und empirisch nicht haltbar. Der Entwicklungspsychologe und Empiriker Prof. William Fabricius (2019) listet über die bereits beschriebene Kontrolle von alternativen Einflüssen vier weitere Faktoren auf, die einen Kausalzusammenhang als ein Ursache-Wirkung Verhältnis zwischen Kindeswohl und Doppelresidenz begründen.

1.) Insbesondere Väter sind vor dem Hintergrund der Gesetzeslage und der Rechtsprechung in den meisten OECD Ländern nicht in der Lage, die Doppelresidenz zu wählen. Sie wird in der Regel durch Zustimmung der Mutter gewährt. Dies gilt umso mehr für die Jahre und Jahrzehnte zurückliegenden Entscheidungen über eine Betreuungsregelung nach Trennung, die nun in den statistischen Erhebungen auftauchen. Die Merkmale eines Vaters (oder einer Mutter) sind somit gar nicht ausschlaggebend für die Wahl des Betreuungsmodells; es finden sich – oftmals gegen ihren Willen – viele Anhänger gemeinsamer Elternschaft in einem Einzelresidenzarrangement wieder. Dieser Umstand erklärt u.a. die mitunter zu beobachtende mäßige Stärke des positiven Effekts der Doppelresidenz gegenüber der Einzelresidenz. Die untersuchten Gruppen sind sehr heterogen, in beiden befinden sich sehr gute und weniger gute Eltern; mit dem Unterschied, dass allein die Doppelresidenz die Gewähr dafür bietet, dass die guten Eigenschaften beider Eltern voll zum Tragen kommen

Für ein Kind ist die Wahrscheinlichkeit in einer Doppelresidenz zudem viel höher als in einer Einzelresidenz, im Verlauf des Aufwachsens in der Person zum Mindesten eines Elternteils (auch abwechselnd) ein verständnisvolles förderndes Gegenüber zu besitzen. In der Regel entstehen auch in der Doppelresidenz mit beiden Eltern enge vertrauensvolle und entwicklungsfördernde Bindungen, wie sie in zusammenlebenden Familien die Norm sind.

2.) Der zweite Grund ist die Beobachtung, dass bei der Anhebung der Betreuungszeit (bis 50 Prozent) ein sogenannter Dosis – Wirkung Zusammenhang besteht. Je höher die Dosis, desto größer ist die positive Wirkung auf die Eltern-Kind-Beziehung. Dieser Zusammenhang ist besonders stark je niedriger die Ausgangsbasis. Je geringer der Betreuungsanteil desto wertvoller ist jede zusätzliche Stunde und jeder zusätzliche Tag. Dieser positive Ursache-Wirkung Zusammenhang lässt sich nicht mit Selbstselektion erklären, da es vollkommen unwahrscheinlich (siehe 1.) ist, dass die Eignung der Eltern proportional zur Erhöhung der Betreuungszeit zunimmt (womit dann nicht der gestiegene Zeitanteil, sondern die gestiegene Eignung der Eltern ursächlich für die stärkere Bindung zwischen Eltern und Kindern wäre). 

3.) Ein weiteres Argument gegen Selbstselektion liefern empirische Daten von denjenigen Paaren mit Kindern, die sich eben nicht freiwillig für eine Doppelresidenz entschieden haben, sondern für die das Betreuungsarrangement Ausfluss einer Mediation, Jugendamtsentscheidung oder einer gerichtlichen Anordnung war. Während hierzulande viele Beobachter (fälschlicherweise) davon ausgehen, dass eine Doppelresidenz nur auf Initiative beider Elternteile zustande kommen kann, wird diese Betreuungsform in anderen Ländern ganz selbstverständlich seit geraumer Zeit auch gegen den Willen eines Elternteils angeordnet. In einer der größten Erhebungen von Nachtrennungsfamilien dem Stanford Child Custody Survey aus den 1990er Jahren hatte die überwiegende Zahl der befragten Eltern ursprünglich tatsächlich nicht für eine gemeinsame Elternschaft optiert.

Dem höheren Wohlergehen der Kinder mit zwei zu Hause nach einer Trennung gegenüber denjenigen in einer Einzelresidenz tat die fehlende anfängliche Zustimmung beider Eltern keinen Abbruch. Die höhere emotionale Stabilität und bessere Entwicklung der Kinder stellt sich selbst für Kleinkinder als unabhängig von der Freiwilligkeit (und damit möglichen Selbstselektion) der Eltern dar.

4.) Auch Wohnortwechsel über eine größere Distanz nach einer Trennung geben uns Aufschluss über die Kausalität der Beziehung zwischen Doppelresidenz und Wohlergehen der Kinder. Auch in diesen Fällen kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Selbstselektion stattfindet und regelmäßig die besonders vermögenden, gebildeten, liebevollen und fähigen Elternteile zurückgelassen werden oder wegziehen. Vielmehr sind Wohnortwechsel in der Regel beruflich, familiär oder streitbedingt und werden von einem Elternteil gegen den Willen des anderen unabhängig von der Qualität der Eltern-Kind-Bindung forciert. Es handelt sich quasi um ein „natürliches Experiment“. Eine Veränderung vollkommen außerhalb des Einflusses der Eltern (z. B. Standortwechsel des Arbeitgebers) erzwingt eine räumliche Trennung eines Elternteils von den Kindern. In mehreren Studien wurden die Auswirkungen von räumlicher Trennung von einem Elternteil (i. d. R. dem Vater) auf das Wohlergehen von Trennungskindern untersucht. 

Das Ergebnis war im Mittel durchweg negativ. Der beobachtete Zusammenhang zwischen Trennung und Wohlergehen stellte sich als unabhängig von Bedingungen wie Einkommen des wegziehenden Elternteils, negativen Effekten des Wohnortwechsels selber (es machte keinen Unterschied ob das Kind mit einem Elternteil den Wohnort wechselte, oder ob „lediglich“ ein Elternteil wegzog, das Kind aber am ursprünglichen gemeinsamen Wohnort verblieb) und Gewalterfahrung heraus.

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