Regelfall bedeutet Zwang

Wer behauptet, dass ein Regelfall oder ein Leitbild einen Zwang etabliert, möchte bewusst Ängste schüren. Denn Regelfälle oder Leitbilder gibt es viele, schlicht aus der Einsicht, dass sie sinnvolle Handlungsmaxime sind. Die Unschuldsvermutung ist ein solches Leitbild oder das Bestreben, niemanden ohne Not für immer aus der Gesellschaft auszuschließen. Niemand würde auf den Gedanken kommen, mit der Unschuldsvermutung den Zwang in Verbindung zu bringen, stets die Unschuld eines oder einer Verdächtigen anzunehmen. Die Unschuldsvermutung besagt lediglich, dass Schuld bewiesen werden muss, nicht Unschuld.

                                     Ein Regelfall ist eine Handlungsmaxime oder ein Leitbild, das eine gesellschaftliche Wertvorstellung widerspiegelt.

Ebenso verhält es sich mit der Vermutung der Kindeswohldienlichkeit der Doppelresidenz – kurz Regelfall Doppelresidenz genannt. Die Vermutung stützt sich auf die Grundannahme, dass die Doppelresidenz im Normalfall (dem Grunde nach) für ein Kind die günstigste Betreuungsvariante nach einer Trennung der Eltern sei (Nielsen 2018, Kruk et al. 2018). Diese Vermutung ist – wie die Unschuldsvermutung – selbstredend widerlegbar.

                                      Ein Regelfall begründet keinen Automatismus, sondern wird im Einzelfall auf Anwendbarkeit geprüft.

Niemandem wird die Doppelresidenz aufgezwungen, am wenigsten den Kindern. Eltern, die sich außergerichtlich einigen, betrifft die Vermutung der Kindeswohldienlichkeit der Doppelresidenz zum Beispiel höchstens indirekt. Sie werden sie lediglich als Leitbild im Hinterkopf haben.

                                      Ein Leitbild wirkt auch außerhalb gerichtlicher Verfahren, weil es eine Wertvorstellung verkörpert.

Sollten sich Eltern vor Gericht begeben müssen, weil es unterschiedliche Vorstellungen der Nachtrennungssorge gibt – zum Beispiel, weil ein Elternteil gemeinsame Elternschaft in der Doppelresidenz verwirklichen, der andere aber lieber allein für die Kinder verantwortlich sein möchte – dann wird das Gericht im Einzelfall prüfen, warum die Doppelresidenz nicht möglich sein sollte.

Dabei lässt sich das Gericht wie beschrieben von der Vermutung leiten, dass die geteilte Verantwortung im Sinne der Kinder sei.

                                       Ausgangspunkt für eine Prüfung von Sorgeregelungen ist die Kindeswohldienlichkeit gemeinsamer Elternschaft.

Im beschriebenen Beispiel wollen beide Eltern jeweils mehr Verantwortung übernehmen, als der andere ihnen zugestehen möchte. Mit dem Unterschied, dass eine Partei beide Eltern in der Verantwortung sieht, und die andere Partei lediglich sich selbst. Warum sollte die Doppelresidenz nicht möglich sein? Das Gericht wird im Einzelfall prüfen, was gegen die Doppelresidenz spricht: Vielleicht ein tatsächlich ungeeigneter Elternteil, vielleicht eine im konkreten Fall zu große räumliche Distanz, oder vorübergehende große berufliche Verpflichtungen etc. Gibt es keine gewichtigen Einwände gegen die Doppelresidenz und sind beide Eltern prinzipiell bereit, Verantwortung zu übernehmen, dann wird das Gericht eine Doppelresidenz anordnen.

                                       Bei grundsätzlich geeigneten Eltern wird auf gemeinsame Elternschaft und Verantwortung hingearbeitet.

Der ehem. Sprecher Recht & Verbraucherschutz der SPD Joachim Fechner schreibt, dass die derzeitigen „gesetzlichen Bestimmungen dem Wortlaut nach auf den Fall zugeschnitten [seien], dass ein Elternteil hauptsächlich betreut und der andere sein Umgangsrecht ausübt.“ Die wesentliche Änderung zum heutigen Regelfall Einzelresidenz wäre also, dass die Verantwortungsübernahme beider Eltern gesellschaftlich gefördert wird.

Der Status-Quo ist der Regelfall Einzelresidenz/alleinerziehend, der angestrebte Regelfall Doppelresidenz fördert demgegenüber gemeinsame Elternschaft 

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