Kindeswohl bedeutet strikte Einzelfallentscheidung

„Jedes Kind ist anders“ und „Kein Betreuungsmodell kann für alle Familien passen“ liest sich auf den ersten Blick sehr vernünftig und ist dennoch irreführend.

In grundlegenden unveräußerlichen Eigenschaften sind alle Kinder gleich und auch Familien folgen in Ihren Beziehungen einem grundlegend gleichen Muster.

Jedes Kind entwickelt zu liebevoll zugewandten Eltern eine sehr enge Beziehung und leidet darunter, wenn diese gekappt oder arg strapaziert wird. Eltern entwickeln unter normalen Umständen unabhängig vom eigenen Geschlecht und dem Geschlecht des Kindes eine sehr enge Beziehung zu ihren Kindern und leiden ebenfalls darunter, wenn diese gekappt und arg strapaziert wird. Obschon bereits die ideelle Verbundenheit (zu wissen, dass jemand da ist, der/die einen liebt) Halt gibt, ist es für Eltern und Kindern die gemeinsame Zeit, die ihre Beziehung wachsen lässt und ihnen ermöglicht, sich immer wieder aufeinander einzustellen (siehe Qualität ist wichtiger als Quantität).

Es ist also grundsätzlich wichtig, enge Beziehungen zu beiden Eltern (und darüber hinaus zu weiteren Familienangehörigen) zu erhalten und zu fördern.

Auf der anderen Seite führen die „Einzelfallentscheidungen“ vor dem Hintergrund einer Rechtslage, die von dem Grundsatz „einer zahlt, einer betreut“ getragen ist, zu einer erstaunlich einförmigen Rechtsprechung. Im Zweifelsfall wird in nahezu 100% der Entscheidungen der Mutter die Hauptsorge übertragen. Dieser Umstand verwundert nur auf den ersten Blick. Denn über die beschriebene rechtliche Vorgabe, Eltern in Betreuung und Unterhalt zu trennen, hinaus, ist auch der Maßstab „Kindeswohl“ bisher fast vollkommen frei und damit willkürlich interpretierbar.

Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass in der Rechtspraxis Geschlechterstereotype verinnerlicht und reproduziert werden. Dieser Umstand wird leider unabhängig von der Erfahrung und der Qualifikation der entsprechenden Richterin/des entsprechenden Richters beobachtet. Über die Tendenz, mit dem Kindeswohl alle möglichen und unmöglichen Entscheidungen zu begründen wie über die häufig miserable Qualität der psychologischen Gutachten wird glücklicherweise zunehmend häufiger berichtet. Zusammen mit der fehlenden spezifischen Schulung und Weiterbildung der Familienrichter und Familienrichterinnen führt die Einzelfallentscheidung derzeit vor allem zu gerichtlicher Willkür im Einzelnen und in der Summe zu einer Beibehaltung des status-quo.  In 2021 griff das Schweizer Bundesgericht (höchste ordentliche Instanz) die Thematik der willkürlichen ungeleiteten Einzelfallentscheidung auf und schrieb in der Schweiz die qualifizierte Prüfung  der Doppelresidenz als minimale Sorgfaltspflicht vor.

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